Stefan Nacke zu TOP 3: Soziale Auswirkungen von Corona auf Studierende endlich ernstnehmen...

28.04.2021

Herr Präsident,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
lieber Herr Bell,

Die Naturkatastrophe der Corona-Pandemie verändert unsere Aufmerksamkeitsökonomie. Sie fungiert gleichsam wie ein Brennglas und stellt die Gesellschaft von den Füßen auf den Kopf, wer oder was ist in welcher Reihenfolge jetzt besonders wichtig: Seit Monaten führen wir politische Diskussionen über Systemrelevanz, Priorisierungen, über die Funktion von Wissenschaft und Politik, über die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems. Es ist ein Kampf um Anerkennung, um Sichtbarkeit, eine existentielle Auseinandersetzung um Überlebenschancen aber auch einfach um Lebenschancen.

Auch in der Krisenzeit steht landespolitisch die Schule im Vordergrund der Debatten. Zum einen geht es um elementare Bildung und um Kinder und Jugendliche, die uns in besonderer Weise schutzbefohlen sind.
Jeder ist in irgendeiner Weise Betroffen, ist selbst Kind, hat Kinder oder Enkel oder kennt eine Lehrerin. Zum anderen ist Schule immer schon ein Politikum, ein Feld parteilicher Auseinandersetzung, ideologischer Grabenkämpfe – dies alles viel mehr als der Bereich der Wissenschaftspolitik.

Bei all meinen Gesprächen mit Studierenden, Lehrenden und Hochschulleitungen ist mir deutlich geworden, dass in unserem Bereich die notwendige Umstellung auf Distanzlernen viel einfacher und auch geräuschloser gelungen ist. Gemeinsamen haben die am Hochschulleben Beteiligten dafür gesorgt, unter den Maßgaben des Gesundheitsschutzes die Studierfähigkeit aufrecht zu erhalten und Studierbarkeit sicherzustellen. Mit einer enormen Flexibilität aller Beteiligter, Lehrender und Studierende konnte flächendeckend digitale Lehre etabliert werden. Die nötigen Rahmenbedingungen für Prüfungen etc. haben wir auch in großer Gemeinsamkeit hier im Haus politisch schnell hergestellt. Bei den Gesprächen kommt aber immer auch zum Ausdruck - und ich weiß es doch auch aus meiner eigenen Biografie -  dass ein Studium viel mehr ist, als das erfolgreiche Absolvieren von Lehrveranstaltungen.

Das Studium ist ein Lebensabschnitt, in dem sich vieles entscheidet, wie das künftige Leben verlaufen wird, in dem neben der Fachlichkeit vor allem auch Selbständigkeit erprobt und entwickelt wird.
Es geht um Erfahrungen: in Praktika, im Bereich des Engagements und sozialer Verantwortung, um Beziehungen, Partnerschaften, Geselligkeit, es geht um die Ausbildung einer erwachsenen Identität. Sicher ist Vereinsamung ein Thema und natürlich Frust – das kennen wir in der Politik ja auch nach über einem Jahr Pandemie. Manche heute schon nicht mehr Studienanfänger im dritten Semester haben ihre eigene Hochschule noch nicht von innen gesehen, für andere geht steht ihr gesamtes Masterstudium, das doch zu besonderen Profilierung beitragen soll,  unter den Vorzeichen der Corona-Einschränkungen.

Die Reduktion des öffentlichen Lebens, die Schließung der Gastronomie hat sicher zum Wegfall von Verdienstmöglichkeiten und Nebenjobs geführt. Auf der anderen Seite sind aber auch andere Verdienstmöglichkeiten entstanden, wie z.B. in den bei der Unterstützung der Kontaktnachverfolgung in den Gesundheitsämtern oder bei den Corona-Testungen. Man kann sich auch vom Klischee des kellnernden Studenten lösen. Die Welt ist vielfältig. Aber es gehört auch zur Wahrheit: Studierende sind wie viele andere Bürger von Zukunfts- und Existenzängsten betroffen, erleben psychische Beeinträchtigung und so manche soziale Härte.

Der Bund hat in seiner Zuständigkeit zugesichert, dass seine Überbrückungshilfe für das Sommersemester 2021 fortgesetzt wird. Zudem wird auch der Studienkredit der Kreditanstalt für Wiederaufbau – bis zu 650 Euro pro Monat – in diesem Jahr zinsfrei gestellt sein. Einerseits sind die vom Bund zur Verfügung gestellten Mittel (2020: 134 Mio. Euro; 2021: 145 Mio. Euro) bisher aber nicht vollständig abgerufen worden. Andererseits kann man nicht davon ausgehen, dass die Hilfen vollumfänglich existenzsichernd sind. Weiterhin sind ja auch Kindergeld und Familienmitversicherung sowie Unterhaltansprüche zu berücksichtigen. Zudem ist zu vermuten, dass der Anteil BAföG-berechtigter Studierender steigen wird, da so manche Familie durch die Pandemie leider verschärfte Existenzbedingungen haben wird. Die Forderung des vorliegenden Antrags – NRW solle in die Finanzierung dieser Hilfen einsteigen – wirkt zwar populär, sie ist aber systemfremd und widerspricht der Zuständigkeit und der Verantwortlichkeit der föderalen Ebenen: Kein Bundesland auch nicht mit SPD-Regierungsbeteiligung stockt die Überbrückungshilfe des BMBF aus Landesmitteln auf. Was auf Länderebene gemacht werden kann, wird auch gemacht: Eine erneute Verlängerung der Regelstudienzeit ist ministeriumsseitig in Arbeit und wird so über die Corona-Epidemie-Hochschulverordnung geregelt werden, dass die Zusicherung des Bundes für eine erneute Verlängerung der individuellen Regelstudienzeit im BAföG greifen kann.

Beeindruckend sind aber die Hilfsaktivitäten an unseren Hochschulen vor Ort. Fast die Hälfte hat zum großen Teil spendenbasiert eigene Hilfsfonds eingerichtet. Hier kommt die eine große gesellschaftliche Solidarität zum Ausdruck,  für die ich sehr dankbar bin. Wir reden in der Corona-Zeit viel zu wenig von diesem Resilienzpotenzial unserer Zivilgesellschaft, wir müssen nicht immer nach dem Staat rufen, vieles geht unmittelbar und direkt vor Ort. An meiner eigenen Hochschule, der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster,z.B. hat eine Spendenaktion für einen „Corona-Notfond“ bislang über 700.000 Euro eingebracht, so dass Studierende zweimal Zuschüsse in Höhe von jeweils bis zu 450 Euro pro Semester erhalten können, Studierende mit Elternverantwortung zusätzlich 185 pro Kind. Die Antragsprüfung wird in Münster über die Sozialberatung des AStas anhand definierter Richtlinien abgewickelt. Es gibt an unseren Hochschulen neben solchen Fonds auch finanzielle Überbrückungshilfen aus den Mitteln der ASten, Darlehensangebote, Stipendien, besondere Möglichkeiten für Ausländische Studierende, Sachleistungen wie Ausleih-Notebooks.

Zwar dauert die Krise schon lange an, sie beschreibt aber keinen Modus der Ewigkeit und es gibt berechtigte Hoffnung. So sagte Bundesbildungsministerin Anja Karliczek vorgestern auf die Interviewfrage, was sie konkret tun würde, um den Studenten eine Öffnungsperspektive zu geben, dass sie dafür werben würde – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten -, „dass es bei verbesserter Infektionslage – wenn möglich – erste Öffnungsschritte gibt. Ganz leicht ist das nicht: Teils sind die Studierenden ja auch gar nicht an den Studienort gezogen, sodass dann zunächst hybride Modelle angeboten werden müssten. Wir sind mit den Studierenden, den Hochschulen und meinen Kolleginnen und Kollegen in den Ländern im Gespräch. Es gibt doch aber wie für die Schulen Hoffnung: Bis zum Spätsommer sollte das Land so weit durchgeimpft sein, dass wir ein weitgehend normales Wintersemester haben können. Dabei sollten Erstsemester und Studierende am Ende ihres Studiums Priorität haben.“
Also, es besteht die berechtigte Hoffnung, dass die Impfkampagne im Herbst so weit sein wird, dass wir die neue Normalität nach Corona in den Blick nehmen können. Dabei wird sicher nicht alles wie vorher. Die Pandemie hat aber auch wie ein Katalysator der Digitalisierung gewirkt und zu Innovationsschritten geführt, insbesondere in der Weiterentwicklung der Lehre. Diese müssen gesichert und qualitativ abgesichert werden. Die Schäden, die im Bildungssystem trotz aller Bemühungen bei unseren jungen Menschen entstanden sind, müssen wir aber auch in den Blick bekommen und passgenaue Maßnahmen der Kompensation entwickeln. In dieser Hinsicht stellt der vorliegende Antrag meines Erachtens nicht die richtigen Fragen. Hier geht es mir angesichts der beeindruckenden Aktivitäten vor Ort viel zu viel um mehr Staat und das an der falschen Stelle. Über die Passgenauigkeit der Vorschläge, vor allem aber um die richtigen Fragenstellungen werden wir nach Überweisung im Ausschuss debattieren. Dabei bin ich besonders daran interessiert, auch mit Hochschulvertretern über die Frage der Studienberatung in psychosozialer Hinsicht ins Gespräch zu kommen.

Zwar ist jeder zunächst einmal seines Glückes Schmied. Aber der Beitrag in der FAS über Neuerungen in der Glücksforschung, deren bisheriges Modell eines Us durch eine absteigende Gerade infrage gestellt wird, hat mir noch einmal vor Augen geführt, wie wichtig die Lebensphase des Studiums ist. Politik kann vielleicht nicht glücklich machen, sie kann aber das Feuer anheizen, Motivation entfachen, diesen wichtigen Lebensabschnitt des Studiums auch in Coronazeiten gut zu meistern. Dafür setzen wir uns ein.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

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