
Sehr geehrte Frau Präsidentin/
Sehr geehrter Herr Präsident,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
„Ein Aufenthalt in der Hölle, der mein ganzes Leben verändert hat“, beschreibt ein Betroffener im Report Mainz vom 03.12.2019 seine Erfahrungen in der Kinderlandverschickung.
„Es waren ausnahmslos traumatisierende Erlebnisse, die mich bis heute belasten“, „Danach war alles anders“, schreiben zwei Weitere.
Neun von zehn Kurkindern geben in ihren Erfahrungsberichten an, dass die Kur sie schon als Kind sehr belastet habe. Viele hätten tagelang geweint, schwere Angst vor Erzieherinnen gehabt und unter starkem Heimweh gelitten.
Die Kur sei „Psychoterror und Folter“ gewesen, ein „Aufenthalt in der Hölle“ oder ein „dunkler Fleck in der Kindheit“.
Eine nur scheinbare Idylle, die für die Betroffenen nicht selten im Trauma endete.
„Verschickung“ lautete nach 1945 der Sammelbegriff für das Verbringen von Klein- und Schulkindern, die wegen gesundheitlicher Probleme in Kindererholungsheimen und -stätten untergebracht waren.
Die erhoffte Kur wurde vielfach zum Albtraum, der nicht selten zu neuen, oft massiveren, Erkrankungen führte.
Gewalt und Züchtigung haben während des vermeintlichen Kuraufenthaltes oft eine große Rolle gespielt. Es wurde viel geschrien, Befehle wurden erteilt, keines der Kinder konnte mal für sich sein.
Auch das Essen wurde zur Folter. Ein Betroffener schildert, Hagebuttentee trinken zu müssen. Er habe dagegen eine Abscheu gehabt und würgen müssen. Andere Betroffene schildern, wie sie ihr Erbrochenes wieder aufessen mussten.
Viele Kinder hätten das Gefühl gehabt, diese Zeit nicht überleben zu können. Ein Betroffener schildert, dass eine Masernerkrankung seine Rettung gewesen sei: Er wurde isoliert, kam in ein Krankenzimmer und man ließ von ihm ab.
Wir wissen, dass in den 50er und 60er Jahren körperliche Züchtigung als gesellschaftliches Erziehungsmittel durchaus akzeptiert war. Erst im Jahr 2000 wurde ein gesetzliches Verbot der körperlichen Züchtigung eingeführt.
Bis in die 1960er Jahre dominierten überwiegend autoritäre und autokratische Erziehungsmodelle. Gehorsam und Respekt standen hier an erster Stelle, das wissen wir alle.
Kinder waren im Elternhaus, aber auch in Schulen und anderen Einrichtungen stets einer strikten Hierarchie und der jeweils geltenden Hausordnung unterworfen.
Die von zahlreichen Betroffenen geschilderten „sogenannten Erziehungsmethoden“ während der Kinderlandverschickung lassen sich damit aber nicht rechtfertigen. Sie sind ganz klar einer „schwarzen Pädagogik“ zuzuschreiben und galten schon damals als nicht geeignete Erziehungsmethoden.
Hier ist eindeutig von systematisch schlechter Behandlung zu sprechen – zum Teil sogar von Misshandlung.
93 Prozent der ehemaligen Kurkinder bewerten ihre Erholungskur dem anfangs zitierten Bericht zufolge negativ.
Mehr als 60 Prozent der Betroffenen äußern, noch heute unter den Erlebnissen zu leiden: in Form von Angst- und Essstörungen, Panikattacken und Depressionen.
Vieles, was wir heute über die psychischen und physischen Folgen für die sogenannten „Verschickungskinder“ wissen, basiert im Wesentlichen auf Erlebnisberichten der Betroffenen und der „Initiative Verschickungskinder“.
Auch eine abschließende Zahl betroffener Verschickungsheime in Nordrhein-Westfalen liegt nicht vor.
Die nordrhein-westfälische Landesregierung und wir als NRW-Koalition unterstützen ausdrücklich den Wunsch der ehemaligen „Verschickungskinder“ nach Aufarbeitung der damaligen Vorkommnisse.
Leider gestaltet sich diese Aufarbeitung schwierig, da es keine zentrale Datenerfassung aus diesen Jahren gibt und uns keine genauen Erkenntnisse zur konkreten Anzahl der Betroffenen vorliegen.
Einzelne Länder haben bereits erste Versuche einer Aufarbeitung gestartet. Dort hat sich gezeigt, dass eine Aufarbeitung auf Landesebene nicht zum gewünschten Erfolg führt, da die Betroffenen aus dem gesamten Bundesgebiet kommen.
Erschwerend kommt hinzu, dass für diese schrecklichen Vorkommnisse unterschiedliche Einrichtungen und Träger verantwortlich waren.
Die nordrhein-westfälische Landesregierung wird sich daher für eine bundesweite Aufklärung und Aufarbeitung der Geschehnisse einsetzen.
Unabdingbar ist dabei, die bisherigen Berichte und Erkenntnisse der Opfer hier mit einzubeziehen.
Wichtig für die Betroffenen ist auch, dass sie bei Erfüllung der rechtlichen Voraussetzungen des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) einen Anspruch auf Versorgung nach dem OEG in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz haben.
Für Personen, die vor dem Inkrafttreten des OEG (15.05.1976) geschädigt wurden, können sich Ansprüche auf Leistungen im Rahmen der Härteregelung aus §10a OEG ergeben.
Wir als Politik müssen prüfen, wo wir helfen können. Das Ziel muss sein, die Vorfälle aufzuarbeiten und den Opfern Entschädigungen zukommen zu lassen.
Wir müssen aber auch systematisch aufklären, damit die Träger, Gesundheitsämter und Kassen Verantwortung übernehmen.
Insofern sind wir gespannt auf die weitere Diskussion im Ausschuss und stimmen der Überweisung selbstverständlich zu.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!
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