Der Anschlag von Berlin treibt die Menschen in Nordrhein-Westfalen und in Deutschland weiter um – verständlicherweise. Vor zwei Monaten, am 19. Dezember 2016, kamen beim bisher folgenreichsten islamistischen Anschlag auf deutschem Boden 12 Menschen ums Leben, 50 wurden teils schwer verletzt. Der Täter, Anis Amri, war kein Unbekannter. Den Behörden war bekannt, dass er gewaltbereit und islamistisch radikalisiert war, sich dem IS als Selbstmordattentäter angeboten hatte, einem V-Mann gesagt hatte, er wolle im Namen Allahs töten, sich nach Schusswaffen und der Herstellung von TNT erkundigt hatte, unter 14 verschiedenen Alias-Namen unterwegs war, hochmobil zwischen den Bundesländern pendelte, und Sozialbetrug begangen hatte, Nordrhein-Westfalen hatte über weite Strecken und im Wesentlichen die Zuständigkeit für Amri: für die die Beobachtung des Gefährders Amri, für die Strafverfolgung des notorischen Mehrfachtäters Amri, für die Abschiebung des abgelehnten Asylbewerbers Amri. Und was sagt der NRW-Innenminister: Man sei „bis an die Grenze des Rechtsstaats“ gegangen. Das macht fassungslos. Die Menschen im Land, nicht zuletzt die Angehörigen der Opfer vom Breitscheidplatz fragen sich doch: Was ist das für ein Rechtsstaat, dem es nicht gelingt, einen ausreisepflichtigen, mehrfach kriminellen islamistischen Gefährder festzusetzen? Diese Frage ist berechtigt, sie drängt sich geradezu auf. Zwei Monate nach dem Anschlag lesen wir heute in der Zeitung: Der Bundesjustizminister berichtet gegenüber dem Rechtsausschuss von sage und schreibe 11 Strafverfahren gegen Amri: Ermittlungsverfahren gegen Amri wurden bei Staatsanwaltschaften in Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Berlin geführt: Staatsanwaltschaft Freiburg: Unerlaubte Einreise. Staatsanwaltschaft Karlsruhe: Erschleichen von Leistungen. Staatsanwaltschaft Ravensburg: unerlaubter Aufenthalt im Bundesgebiet und Urkundenfälschung. Staatsanwaltschaft Kleve: Diebstahl. Staatsanwaltschaft Kleve: Verstoß gegen das Asylgesetz. Staatsanwaltschaft Duisburg: Verdachts des Leistungsbetruges. Staatsanwaltschaft Arnsberg: Verdachts des Diebstahls. Generalstaatsanwaltschaft Berlin: versuchter Beteiligung an einem Tötungsverbrechen. Staatsanwaltschaft Berlin: Verdacht der mittelbaren Falschbeurkundung. Staatsanwaltschaft Berlin: gefährliche Körperverletzung. Staatsanwaltschaft Berlin: mögliche Betätigung als Kleindealer. Zuständig für die Bündelung von Strafverfahren war Nordrhein-Westfalen. Aber auch das erfahren wir nicht von Ihnen, Herr Jäger, sondern erst aus der Chronologie der Bundesministerien. Strafbefehle konnten in Nordrhein-Westfalen nicht zugestellt werden, weil Amri nicht auffindbar war – zu einer Zeit, in der bisher von „nahezu lückenloser Beobachtung“ die Rede war. Und der Innenminister stellt sich hin und sagt: „Alle wussten alles.“ Das galt damals nicht und trifft bis heute nicht zu. Die Behörden wussten damals nicht alles und die Öffentlichkeit weiß bis heute eben nicht alles. Vor dem Hintergrund solcher Meldungen und ihrer Wirkung in der Öffentlichkeit kommen diesem Ausschuss zwei wichtige Aufgaben zu: Er muss das Handeln der nordrhein-westfälischen Behörden im Fall Amri aufklären und begangene Fehler oder folgenreiche Unterlassungen offen und deutlich benennen. Er muss die Behauptung des Innenministers, er und seine Behörden seien an die „Grenze des Rechtstaats“ gegangen, genau prüfen. So können wir einen Beitrag dazu leisten, dass die Menschen ihr Vertrauen in den Rechtsstaat wieder zurückgewinnen. Unser, mein Versprechen an die Opferfamilien und die Öffentlichkeit gilt: Wenn in Nordrhein-Westfalen schon nicht alles dafür getan wurde, Amri vor seiner Tat aufzuhalten, wollen wir dafür sorgen, dass zumindest bei der Aufklärung des Falls nichts unterlassen wird. Die Entscheidung für diesen Untersuchungsausschuss stand am Ende eines langen Abwägungsprozesses zwischen nachvollziehbaren Bedenken gegen einen solchen Ausschuss so kurz vor der Wahl und dem berechtigten Aufklärungsinteresse der Opferfamilien und der gesamten Öffentlichkeit. Fünf Gründe waren und sind für uns entscheidend: Blockade der Aufklärung durch Landesregierung. In den letzten Wochen ist der Eindruck gewachsen: im Fall Amri können wir von dieser Landesregierung keine Transparenz und Ehrlichkeit aus eigenem Antrieb mehr erwarten. Sie hatten genug Chancen, für eine umfängliche Aufklärung zu sorgen, in 3 Innenausschusssitzungen, im Landtagsplenum, im Innenausschuss des Bundestages. Sie haben sie nicht genutzt. Grenzen des Innenausschusses erreicht: Der Innenausschuss ist als Format für die Aufklärung des Falls an seine Grenzen gestoßen. Eine persönliche und direkte Befragung des Innenministers haben die Regierungsfraktionen verhindert. Wichtige Dokumente, die der Innenausschuss vom MIK gefordert hat, wurden immer noch nicht zugestellt. Beweissicherung: Mit jedem Tag, der vergeht, steigt die Gefahr, dass wichtige Daten und Dokumente zum Fall Amri gelöscht werden. Das Vorgehen der Landesregierung im Rahmen des Untersuchungsausschusses zur Silvesternacht 2015 ist uns in bester Erinnerung – und eine Mahnung. Dass zentrale Daten, die für die Aufklärung notwendig sind, gelöscht werden, das hätte damals nicht passieren dürfen und das darf im Fall Ami nicht wieder geschehen. Gesamtbild nur mit Nordrhein-Westfalen. Herr Minister, Sie haben am 5. Januar im Innenausschuss gesagt, dass die Geschehnisse in Nordrhein-Westfalen nur ein Ausschnitt eines Gesamtbildes seien, dass sich erst aus der Zusammenarbeit aller Behörden im Fall Amri ergebe. Da haben Sie Recht. Klar ist aber auch: Nordrhein-Westfalen ist der wichtigste Ausschnitt von allen. Nordrhein-Westfalen ist der zentrale Ausschnitt: Hier lag die Zuständigkeit für den Gefährder. Hier lag die Zuständigkeit für den ausreisepflichtigen, notorisch straffälligen Asylbewerber. Hier lag über weite Strecken die Zuständigkeit für die polizeiliche Gefahrenabwehr. Ohne eine gründliche Aufklärung der Vorgänge in Nordrhein-Westfalen wird die Aufklärung in Berlin und auf Bundesebene nicht erfolgreich sein können. Negativbeispiel Loveparade 2010: Ein zufälliger Wahltermin darf die Aufklärung eines so wichtigen Ereignisses nicht noch einmal verhindern. Bei der Loveparade-Katastrophe 2010 wurde auf die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses verzichtet. Heute sind sich alle Parteien einig, dass dies ein Fehler war, zumal auch die juristische Aufarbeitung der Katastrophe nicht zufriedenstellend war – schon gar nicht für Familien und Freunde der 21 Menschen, deren Leben so schrecklich, so tragisch endete. Diesen Fehler sollten wir, sollte dieses Parlament nicht wiederholen. Eine erfolgreiche Arbeit des PUA zum Fall Amri wird dann wahrscheinlicher, wenn alle Fraktionen, ob in der Opposition oder in der Regierung, alles dafür tun, dass der Ausschuss bis zum Ende dieser Legislatur arbeits- und handlungsfähig ist. Dafür wäre ein gemeinsamer Antrag heute ein starkes Zeichen gewesen. Wir haben alles getan, um das möglich zu machen: Ich habe Sie schon vor zwei Wochen eingeladen, unserem Antrag beizutreten. Wir haben Ihnen unseren Antragsentwurf vor Beschluss in unserer Fraktion zukommen lassen. Unsere Einladung haben wir bei der Einbringung unseres Antrags vor einer Woche wiederholt. Aber erst am Montagabend haben wir von Ihnen Änderungswünsche zu unserem Antrag bekommen: 40 an der Zahl. Wir haben alle diese Punkte in kurzer Zeit intensiv geprüft. Letztlich haben wir von diesen 40 Punkten 23 komplett und 4 in geänderter Fassung übernommen und eingearbeitet. Das sind zwei Drittel. Dennoch wollen Sie unseren Antrag heute ablehnen. Wir haben uns dazu entschieden, trotzdem alle von uns übernommenen rot-grünen Änderungswünsche im Antrag zu belassen, auch wenn Sie ihm nicht zustimmen. Wir wollen damit ein Zeichen setzen: gegen Parteien-Klein-Klein, für Aufklärung. Ich appelliere dazu an die Regierungsfraktionen: Sie haben den Vorsitz und die Mehrheit im Ausschuss. Nutzen Sie diese neue Chance, um Ihren Willen zur Aufklärung des Falles Amri unter Beweis zu stellen. Zeigen Sie, dass der Landtag der richtige und legitime Ort zur Aufklärung ist. Wir haben klare Erwartungen: Der Ausschuss sollte sich noch in dieser Woche konstituieren. Der Ausschuss sollte bereits in seiner ersten Sitzung erste Beweisbeschlüsse fällen – damit die Zusammenstellung der Akten umgehend beginnen kann. Der Ausschuss muss alle Akten und Dokumente, die auch der regierungsseitig bestellte Gutachter einsehen darf, binnen 14 Tagen vorgelegt bekommen. Um es konkret zu sagen: Wenn der Ausschuss sich an diesem Freitag, dem 17. Februar, konstituiert und erste Beweisbeschlüsse fasst, erwarten wir die Unterlagen bis zum 3. März. Das sollte auch möglich sein. Die Ministerpräsidentin hat hier im letzten Plenum erklärt, der Gutachter – ich zitiere – „wird Zugang zu allen Dokumenten und Akten erhalten.“ Und, ich zitiere: „Ziel ist es, bis Ende März das Gutachten vorliegen zu haben.“ Dann sollten die Dokumente zumindest bereits zusammengestellt sein. Was der Regierungsgutachter bekommt, muss der Parlamentsausschuss mindestens bekommen. Der Ausschuss sollte nach Lieferung dieser Akten umgehend mit der Befragung der ersten Zeugen beginnen. Wir wissen nicht, wie viele Sachverhalte wir in den nächsten zwei Monaten im Untersuchungsausschuss werden aufklären können. Ziel muss es sein, so viel Transparenz wie möglich herzustellen. Für uns ist klar: alle Fragen, die nicht zweifelsfrei geklärt werden können, müssen auf der Tagesordnung dieses Hohen Hauses bleiben. Ich habe zu Beginn gesagt, dass Aufklärung nicht von zufälligen Wahlterminen abhängen darf. Das gilt vor der Wahl – und das wird auch nach der Wahl gelten. Wir sagen als CDU heute schon zu, den Untersuchungsausschuss zum Fall Amri nach der Wahl sofort wieder einzusetzen, damit der neue Landtag seine Arbeit dort aufnehmen kann, wo der alte sie beendet hatte. Das ist unser, das ist mein Versprechen an die Opferfamilien und die Menschen in Nordrhein-Westfalen: Wir werden nicht eher ruhen, bis der letzte Teil der Kette des Versagens ausgeleuchtet ist, an deren Ende ein barbarischer Akt stand. Herr Jäger, Sie haben gesagt: „Wenn 12 Menschen sterben, ist jede Frage erlaubt.“ Leider muss man nach drei Innenausschuss-Sitzungen sagen: nicht jede Antwort ist von ihnen gewollt. Im Gegenteil, es ist erschreckend – persönlich muss ich sagen: beschämend – wie, wie Sie Fragen konsequent ausgewichen sind, wie Sie oder Ihre Mitarbeiter entscheidende Fakten zur Verantwortung von Ihnen und ihren Behörden dreist weggelassen haben, wie Sie Verantwortung kaltschnäuzig abgeschoben haben, obwohl sie nirgendwo anders lag und liegt als bei Ihnen. Die Menschen treibt dieses Attentat um. Wir werden nicht locker lassen. Jede Frage wird gestellt, zur Not mehrfach. Bis Sie antworten. Das Parlament ist und bleibt dafür der richtige Ort – in aller Öffentlichkeit und Transparenz.
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