Günther Bergmann zu TOP 5 "Rechtsstaatlichkeit in Europa schützen – EU-Grundwerte stehen nicht zum Verkauf2

12.11.2020

Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Herren!
Fundamente der Europäischen Union sind ihre gemeinsamen Grundwerte. Die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte sind allen Mitgliedsstaaten gemein und explizit im EU-Vertrag verankert.
Wir sind uns sicher alle einig, dass die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit eine Grundvoraussetzung dafür ist, die Gleichbehandlung vor dem Gesetz sicherzustellen und die Rechte der Bürgerinnen und Bürger zu verteidigen.
Rechtsstaatlichkeit als Kernelement der europäischen Werteordnung besitzt auch einen sehr hohen Stellenwert in der Europapolitik unseres Landes Nordrhein-Westfalen. So bezieht NRW schon lange deutlich Position. Die Landesregierung – angefangen etwa mit ihrem Vorsitz in der Europaministerkonferenz im Jahr 2019 – legt bei Gesprächen mit EU-Partnern stets einen Schwerpunkt auf die rechtsstaatliche Situation in der EU. Darüber hinaus hat sich auf Initiative der NRW-Koalition auch der Landtag für die Sanktionierung von Verstößen gegen das Rechtsstaatsprinzip ausgesprochen.
Unser Antrag bringt schon im Titel unsere Einstellung dazu deutlich auf den Punkt: „Rechtsstaatlichkeit in Europa schützen – EU-Grundwerte stehen nicht zum Verkauf!“
Mit Blick auf den grünen Antrag darf ich bei aller Ähnlichkeit in den Aussagen darauf hinweisen, dass die von Ihnen geforderte Bundesratsinitiative schon stattgefunden hat, denn letzten Freitag hat NRW einen Plenarantrag zum Rechtsstaatsmechanismus eingebracht, der mit breiter Mehrheit angenommen worden ist. Mission accomplished, hätte ich fast gesagt.
Im Auftrag der Kommission erschien vor Kurzem der erste EU-weite Bericht über die Situation der Rechtsstaatlichkeit in den einzelnen Mitgliedsstaaten. Demnach sieht die Kommission zwar grundsätzlich ein hohes Niveau bei der Rechtsstaatlichkeit in Europa erreicht, aber auch in einzelnen Ländern rechtsstaatliche Mängel, deren Deutlichkeit sich allerdings unterscheidet.
Die Möglichkeit, bei Verstößen gegen rechtsstaatliche Elemente Mittel zurückzuhalten oder Kürzungen vorzunehmen, wurde nun verhandelt. Deshalb gibt es nun einen Vorschlag an das Europäische Parlament.
Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft und die Verhandlungsführer des Europäischen Parlaments erzielten dazu im Trilog eine vorläufige Einigung. Die Abgeordneten erreichten unter anderem, dass die Rechtsstaatlichkeitskonditionalität nicht nur dann Anwendung findet, wenn EU-Gelder direkt missbraucht werden, sondern sie gilt auch für systemische Aspekte.
Es gelang auch, einen starken Präventionsaspekt für den Mechanismus beizubehalten: Er kann nicht nur dann ausgelöst werden, wenn ein Verstoß nachweislich direkte Auswirkungen auf den Haushalt hat, sondern auch, wenn ein ernsthaftes Risiko besteht, dass er sich auf den Haushalt auswirkt.
Damit kann der Mechanismus mögliche Situationen in dieser Hinsicht verhindern, in denen EU-Mittel Maßnahmen finanzieren könnten, die im Widerspruch zu den Werten der EU stehen.
Der neue Konditionalitätsmechanismus ist aber weiterhin schwieriger auszulösen, als ursprünglich eigentlich von Kommission und Parlament vorgesehen war. Nach der Vereinbarung würde ein Beschluss über die Kürzung der Mittel die Zustimmung einer qualifizierten Mehrheit der Mitgliedsstaaten erfordern.
Dass einzelne Staaten – denken Sie nur an Bulgarien, Ungarn oder Polen – gegen diese Lösung Position bezogen haben, um es vorsichtig zu formulieren, ist bedauerlich und vielsagend zugleich. Es darf aus meiner Sicht nicht sein, dass auch nur der Eindruck entstehen könnte, dass Wahlgeschenke à la Kaczyński – denken Sie an die 13. Monatsrente und das erhöhte Kindergeld – quasi indirekt von derselben EU finanziert würden, an deren Grundwerten man sich eigentlich nicht immer orientieren möchte.
Ebenso befremdlich finde ich die Aussagen der aktuellen polnischen Regierung in Anbetracht der Tatsache, dass dort nach der Justizreform der Justizminister gleichzeitig Generalstaatsanwalt ist, Gerichte parteipolitisch besetzt werden und Sanktionsmöglichkeiten gegen Richter deutlich ausgedehnt wurden. Die vorläufige politische Einigung über die Einführung des Mechanismus bietet also die Basis für eine engere Verknüpfung der Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit und den Erhalt von EU-Mitteln durch einen Mitgliedsstaat.
Ich sage an dieser Stelle ganz deutlich: Auch und insbesondere vor dem Hintergrund der Diskussionen zur Wahrung dieses Mechanismus wollen wir uns weiter dafür einsetzen, dass die Verhandlungen zum MFR und zum NGEU zügig und erfolgreich zu Ende geführt werden. Der Hintergrund dafür ist, dass für entsprechende Verordnungen im Rat eine qualifizierte Mehrheit ausreicht, sodass ihre Gegner überstimmt werden könnten.
Allerdings haben Polen und Ungarn ja schon damit gedroht, im Falle einer Verknüpfung der Rechtsstaatlichkeit mit dem Haushalt beim MFR für die Jahre 2020 bis 2027 und beim NGEU zu blockieren. Für NRW bleibt aber die Sicherstellung einer angemessenen europäischen Finanzausstattung von großer Bedeutung.
Eine Blockade der genannten Projekte ist daher für uns inakzeptabel, da Rechtsstaatlichkeit und wirtschaftlicher Erfolg nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen.
In diesem Sinne hoffe ich – wahrscheinlich mit Ihnen zusammen, Frau Präsidentin –, dass das Europäische Parlament und der Rat dem ausgehandelten Kompromiss im Dezember zustimmen und wir heute Ihre Unterstützung für unseren Antrag erhalten werden. – Vielen Dank.