Dr. Günther Bergmann zu TOP 3 "Nie wieder! 9. November in der Erinngerung wachhalten - Schutz vor Rechtsextemismus, Antisemetismus und Rassismus verstärken

13.11.2019

Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Herren! Ich möchte erst einmal der SPD ganz herzlich dafür danken, dass sie dieses Thema auf die Tagesordnung gebracht hat. Es ist natürlich ein wichtiges Thema, und wir haben immer und immer wieder daran zu erinnern.
Ich will allerdings auch meiner Enttäuschung Ausdruck verleihen. Sie haben zwar versucht, es in Ihrer Rede rhetorisch zu glätten; das konzediere ich. Aber in Ihrem Antrag steht zu-nächst nur „9. November“, dann etwas über den 9. November 1938 und dann etwas über den 9. Oktober 2019.
Die anderen 9. November, die Ambivalenz dieses Tages in unserer deutschen Geschichte, haben Sie trotz der gewählten Überschrift nicht aufgenommen. Das halte ich für ein Defizit, weil von Ihnen auch 1848 nicht berücksichtigt wurde. 1918 ist noch nicht einmal in Ihrer Re-de erwähnt worden.
Dann nehme ich das zurück. – Auch dieser traurige Tag 1923, der erste Versuch, den Musso-lini-Marsch auf Rom bei uns in Deutschland zu imitieren: Alles das findet in Ihrem Antrag leider nicht statt. Deshalb ist der Antrag für uns etwas zu kurz gesprungen.
Bei all dem, bei dem ich Ihnen nicht nur dezidiert zustimme, sondern vorhin auch applaudiert habe, und all dem, was Sie an richtigen Punkten aufgeschrieben haben, finde ich es etwas zu schwach, wie der 9. November 1938 in seiner Bedeutung auch in der heutigen Gemenge-lage zum besseren Verständnis dieses Tages dort geschildert wird.
Zu diesem Zeitpunkt 1938 war etwa ein Viertel der deutschen jüdischen Bevölkerung ge-flüchtet. Gefühlt ging es um Millionen in Deutschland lebende Juden. So viele waren es je-doch nie. Es war immer weniger als 1 Prozent der Bevölkerung. Bei der sogenannten Macht-ergreifung, die de facto ja nur die Übernahme eines Regierungsauftrages durch den Reichs-präsidenten in Form einer Koalitionsregierung war – leider wird es in unserer Wortwahl wei-terhin als Machtergreifung stilisiert –, war von den 520.000 Juden zu diesem Zeitpunkt schon ein Viertel ausgereist – leider nur ein Viertel.
Das entspricht leider nicht dem, was Sie vorhin geschildert haben. Wäre von den jüdischen Deutschen nur stärker gefühlt worden, dass sie früher gehen müssten! Erst in den Jahren 1937, 1938 und 1939, als sie merkten, dass es keinen Ausweg mehr gab – auch nach Berlin –, sind die Zahlen extrem angestiegen.
Es kommt nicht von ungefähr, dass die Konferenz von Évian 1938 kurz vor den Pogromen stattgefunden hat. Da merkten die Juden letztendlich, dass die Auswege, die sie noch hatten, immer weniger wurden.
Die Zahl ist dann, wenn ich es so salopp formulieren darf, künstlich aufgeblasen worden, weil die österreichischen Juden hinzugezählt wurden. In der Summe ergab das eine Zahl, die größer war als die Zahl derer, die vorher im Deutschen Reich waren.
Es gab nur einen ganz großen Unterschied, der für unser Bewusstsein auch sehr wichtig ist – deswegen unterscheiden wir uns in der Wahrnehmung auch von den Österreichern –: 80 % der österreichischen Juden lebten damals in Wien. In Deutschland lebten nur 30 % der Juden in Berlin.
Das heißt, dass das Landjudentum und die kleinen Gemeinden dann auch dem Zugriff der Nazis ausgesetzt waren – in meiner Heimatstadt nicht am 9. November, sondern am 10. No-vember, weil die Schergen erst dann Zeit hatten, sich um die kleinen Gemeinden zu küm-mern.
Diese Auswirkungen zeigen, wie nah Freud und Leid in der deutschen Geschichte – wenn man 1989 als Gegenpol heranzieht – beieinanderliegen.
Wir sind sehr Ihrer Meinung, dass dieser Tag und die Entwicklungen, die damit in der heuti-gen Zeit leider zusammenhängen, ganz klar in unserem Blickfeld bleiben müssen. Wir müs-sen bei der Antisemitismusbeauftragten etwas tun. Das ist schon in Planung. Auch in Bezug auf die junge Generation müssen wir etwas tun und entsprechende Möglichkeiten bieten – trotz des Wegfalls der Erlebnisgeneration und bald auch der tatsächlich bewussten Kinder-generation.
Deswegen haben wir einen Antrag gestellt, der den 9. November in einen größeren Zusam-menhang stellt. Die Defizite aus unserer Sicht in Bezug auf Ihren Antrag habe ich gerade formuliert. Der 9. November hat nämlich nicht nur 1938 stattgefunden, sondern in der deut-schen Geschichte auch zu vielen anderen Zeitpunkten. Das haben wir, soweit man das in einem Antrag von wenigen Seiten tun kann, fundiert herausgearbeitet. Wir haben Forderun-gen aufgestellt, die in Ihrem Antrag leider fehlen.
Lassen Sie es mich deshalb so formulieren: Wir werden eine wohlwollende Ablehnung Ihres Antrags vornehmen und bitten um Unterstützung unseres Antrags, weil darin die Punkte enthalten sind, die für die Zukunft genau in dem Sinne, den auch Sie hier geschildert ha-ben, wahrscheinlich viel effektiver sind. – Ich danke Ihnen.