Dr. Marcus Optendrenk zu TOP 5 „Aus dem 17. Juni 1953 auch für heute lernen – Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat verteidigen“

17.06.2021

Anrede,
Bertolt Brecht hat in seiner berühmten Rede zum 17. Juni 1953 gesagt: „Wäre es da
nicht einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte sich ein anderes?“. Die
Sehnsucht nach Freiheit, der Wunsch, selbstbestimmt sein Leben führen zu können,
das Bedürfnis nach gesellschaftlicher Teilhabe – das ist stärker und mächtiger als
Unterdrückung und Diktatur.
Der 17. Juni 1953 war der „Aufstand der Menschen gegen den Staat der Unfreiheit
und des Unrechts.“ Es war nicht „ihr“ Staat, weil sich die Menschen damals nicht mit
ihm identifizieren konnten.
Der Aufstand war die Folge von immer rigoroseren Maßnahmen des SED-Regimes
zur Durchsetzung und zum Erhalt der eigenen Herrschaft. Die in ihren Rechten
beschnittenen oder ihrer Rechte völlig beraubten Bauern, Mittelständler und Christen
forderten im Vorfeld die sofortige Wiederherstellung ihrer Rechte. Andererseits
wehrte sich die Arbeiterschaft immer entschiedener gegen die Erhöhung von
Arbeitsnormen, die wegen Materialmangels und den daraus folgenden
Stillstandszeiten der Produktion zu teilweise erheblichen Lohneinbußen der
Beschäftigten führten.
Zuvor waren 1952 nicht nur die bis dahin bestehenden fünf Länder der DDR
aufgelöst worden, die 1990 wieder gegründet worden sind. In der Landwirtschaft
waren die Bauern enteignet worden. Handwerker, Kaufleute und andere
Mittelständler hatten ihr Eigentum an den sozialistischen Staat verloren. Kirchliche
Strukturen und Gemeinden wurden immer häufiger zu illegalen Organisationen
erklärt.
Parallel dazu erfolgte eine massive Militarisierung der Gesellschaft und der
Staatsorganisation. Etwa 500.000 Soldaten aus der Sowjetunion waren auf dem
Gebiet der DDR stationiert, die zusätzlich zur sowjetischen Kontrollverwaltung
notfalls für Sicherheit und Ordnung sorgen sollten.
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Längst brodelte es in der Bevölkerung und unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel
hat es in einer Rede zum 17. Juni 1953 auf den Punkt gebracht mit den Worten: „Aus
Wut entstand Mut.“
Am 17. Juni 1953 brach ein Volksaufstand aus, bei dem mehr als eine Million
Menschen auf die Straßen gingen. Sie protestierten offen und eindrucksvoll gegen
dieses Unrechtsregime trotz der für sie persönlich bestehenden Bedrohung durch
Kasernierte Volkspolizei, Staatssicherheit und die sowjetischen Besatzungstruppen.
Es war die erste Massendemonstration im sowjetischen Herrschaftsbereich
überhaupt und versetzte die SED-Diktatur und die Machthaber in Moskau in Panik.
Die Niederschlagung des Volksaufstandes war blutig und brutal. Es gab Tote und
Verletzte. Tausende Menschen büßten mit zum Teil langjährigen Haftstrafen für ihre
Beteiligung an dem Volksaufstand.
Schon wenige Wochen später erhob die Bundesrepublik Deutschland den 17. Juni
zum Feiertag, dem Tag der Deutschen Einheit. Und das in der Erkenntnis der
historischen Bedeutung dieser Ereignisse. So wurde dieser Tag des Erinnerns zu
einem mahnenden Symbol der Freiheit. Deshalb sollten wir uns immer bewusst sein,
dass Freiheit keinen ausgrenzen darf, dass Freiheit von Teilhabe und Verantwortung
lebt, so wie auch Teilhabe und Verantwortung von Freiheit leben. Sie bedingen sich
gegenseitig.
Seit dem Ende der kommunistischen Diktaturen im Osten Europas vertritt kaum noch
jemand die Propagandadeutung der damaligen SED-Machthaber, es habe sich bei
dem Volksaufstand um eine Aktion westlicher Geheimdienste gehandelt. Zu
eindeutig sind die Ursachen und Wirkungen heute belegbar und erforscht.
Der jahrelange brutale Versuch der SED, mit Hilfe Moskaus in der sowjetischen
Besatzungszone ein kommunistisches Herrschaftssystem zu errichten und aufrecht
zu erhalten, wurde 1953 von weiten Teilen der Bevölkerung in Frage gestellt.
Insofern ist dieser Volksaufstand ein Vorbote des Ungarnaufstandes, des Prager
Frühlings, der Proteste der polnischen Solidarnosc und auch der Ereignisse des
Jahres 1989.
In einer sehr gut lesbaren Darstellung hat der Grimme-Preisträger Hans-Hermann
Hertle diese Entwicklungen im Auftrag der Bundeszentrale für Politische Bildung vor
einigen Jahren zusammengestellt. Sie ist unter anderem auf der Internetseite der
Bundeszentrale nachlesbar.
Der Antrag der Fraktion der AfD kopiert auf sechseinhalb Seiten fast wörtlich die
Darstellung von Hertle und erwähnt das auch in immerhin 16 Fußnoten. Dieses
ausführliche Zitieren ist ja heutzutage nicht überall so verbreitet, also dafür schon
einmal ein kleines Lob. Das seitenlange Abschreiben eines Sachtextes ersetzt
allerdings in einem Plenarantrag nicht unbedingt eigenes Formulieren. Immerhin ist
es Ihnen gelungen, eine Reihe von Sätzen aus der Darstellungsform des
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historischen Präsens in die Zeitstufe des Präteritums zu übertragen. Das macht die
Darstellung zwar nicht gerade spannender, aber es ist doch ein eigener Akzent der
AfD. Das sei ausdrücklich zugestanden.
Nicht zuzugestehen ist Ihnen aber die absurde Umdeutung der völkerrechtlichen
Situation Deutschlands nach 1945. Durch die Kapitulation Deutschlands am 8. Mai
1945 endete der 2. Weltkrieg. An diesem Tag wurde Deutschland befreit. Die
nachfolgende Aufteilung in die Besatzungszonen hatte zur Folge, dass Deutschland
bis zur Wiedervereinigung im Jahre 1990 formal völkerrechtlich kein einheitlicher
Staat mehr war. Deshalb waren auch die 2+4-Verhandlungen 1990 die notwendige
Voraussetzung der Deutschen Einheit, die wir heute jedes Jahr am 3. Oktober feiern.
Wahr ist und bleibt, dass ein verbrecherisches Regime in Deutschland von 1933 bis
1945 regiert, einen Weltkrieg mit Millionen von Toten verursacht und unfassbares
Leid über die halbe Welt gebracht hat.
Die Trennung in zwei Staaten war eine der Folgen der Niederlage 1945. Wie man in
einem Antrag über den 17. Juni 1953 die Haltung der westlichen Siegermächte nach
dem Krieg mit der brutalen Einführung einer kommunistischen Diktatur in der
sowjetischen Besatzungszone faktisch in einem Atemzug nennen kann, ist
geschichtsfälschend, unangemessen und sachlich falsch. Die Entwicklung hin zur
Bundesrepublik Deutschland, die Verabschiedung eines Grundgesetzes 1949, die
Aufnahme in die Vereinten Nationen und die Einführung einer Sozialen
Marktwirtschaft in allen drei westlichen Besatzungszonen wäre undenkbar gewesen,
hätten nicht die Westalliierten einen völlig anderen Ansatz bei ihrer
Deutschlandpolitik verfolgt als Stalin.
Der Antrag blendet die europäische Dimension des 17. Juni völlig aus. Überall im
sowjetischen Einflussbereich gab es zwischen 1953 und 1989 Versuche der
Menschen, sich von der kommunistischen Diktatur zu befreien. Die friedliche
Revolution des Jahres 1989 war eben kein allein auf Deutschland bezogenes
nationales Ereignis, sondern eine breite Freiheitsbewegung im Osten Europas. In
Deutschland war die so sehr gewünschte Folge die Chance zur Deutschen Einheit. In
den Visegrad-Staaten und im Baltikum war es die Chance auf Freiheit in
Selbstbestimmung. Es ist kein Zufall, dass sich die Menschen, die die friedlichen
Revolutionen vorantrieben, sich der gemeinsamen europäischen Geschichte
verpflichtet sahen und eine gemeinsame europäische Zukunft ohne Teilung in der
Mitte des Kontinentes wünschten.
Der 17. Juni 1953 ist und bleibt ein bedeutender Tag in unserer Geschichte. Wie bei
vielen anderen wichtigen Daten der Geschichte versucht heute die AfD, diesen Tag
mit eigenen Deutungen zu okkupieren, wieder mit Rückgriffen bis in die
napoleonische Zeit. Diese nationalen Deutungsmuster werden den Ereignissen
damals aber in keiner Weise gerecht. Sie dienen vordergründigen politischen
Narrativen, aber nicht dem Verständnis des 17. Juni 1953 für unsere Geschichte.
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Der Freiheitsgedanke des 17. Juni richtet sich gegen die Willkür eines totalitären
Staates und das wirtschaftliche Versagen der Zentralverwaltungswirtschaft. Der
Kommunismus in Osteuropa – und eben auch in der damaligen DDR – brachten
Millionen Menschen Not, Perspektivlosigkeit und persönliche Unfreiheit. Mich hat
immer beeindruckt, was unser früherer Landtagsvizepräsident Dr. Hans-Ulrich Klose
aus dieser Zeit und eigenem Erleben hier in diesem Parlament berichtet hat. Er hat
für seine Überzeugung in Bautzen im Gefängnis gesessen und sich umso
entschiedener auch hier bei uns für Demokratie, Freiheit, Toleranz und Rechtsstaat
eingesetzt.
Wir leben heute in Deutschland in einer freiheitlichen und demokratischen
Gesellschaft, in der niemand für seine Meinung und Überzeugung getötet, verfolgt
und eingesperrt wird. Dafür dürfen wir dankbar sein. Dafür lohnt jeder Einsatz.
Wie anders ist das in anderen Teilen Europas. Dort gibt es den Kampf der
Machthaber gegen das eigene Volk auch heute noch, und zwar in sehr
vergleichbarer Dimension wie 1953 in der DDR. Ich spreche von der brutalen Diktatur
in Belarus. Der letzte kommunistische Diktator Europas setzt Militär und Polizei
gegen sein eigenes Volk ein. Inzwischen sitzen Tausende in Gefängnissen, sie
werden gefoltert, sie werden sogar aus Flugzeugen heraus gekidnappt. Und das
alles mit offenkundiger Unterstützung Moskaus. Fällt Ihnen etwas auf? Geschichte
wiederholt sich nicht, aber wir können aus ihr lernen.
Es wäre gut, wenn wir nicht nur an den 17. Juni 1953 erinnern würden, sondern
wenn der gesamte Landtag auch heute bei den Ereignissen in Minsk nicht
wegschaut. Dann hätten wir alle aus dem 17. Juni unsere Lektion gelernt.